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Marie Luise Kaschnitz "Das Dicke Kind" 1
Es war Ende Januar, Bald nach den Weihnachtsferien, als das Kind zu mir kam Dicke. Ich Hatte in
diesem Winter angefangen, Die Kinder der Nachbarschaft AUS Bücher auszuleihen, an einem Die sie
und bestimmten Wochentag holen zurückbringen sollten. Natürlich kannte ich Die meisten Dieser
Kinder, aber es kamen Auch manchmal Fremde, Die nicht in unserer Straße wohnten. Und Wenn
Die Mehrzahl Auch nur von Ihnen gerade so Lange Zeit blieb, Wie der Umtausch in Anspruch nahm,
so gab es doch einige, Die sich auf der Stelle hinsetzten Gleich und zu lesen begannen. Dann Saß ich
an meinem Schreibtisch und arbeitete, Die Kinder und dem kleinen Tisch bei saßen an der
Bücherwand, Gegenwart und ihre war angenehm und mir mich nicht störte.
Das Dicke Kind kam an einem Oder Freitag Samstag, jedenfalls nicht an dem zum Ausleihen
bestimmten Tag. Ich Hatte vor, auszugehen, und im Begriff war, einen kleinen Imbiß, den ich mir
gerichtet Hatte, ins Zimmer zu Tragen. Kurz vorher Hatte ich einen Besuch und Dieser gehabt mußte
Vergessen haben wohl, Die Eingangstür zu schließen. So kam es, daß das Kind Ganz plötzlich Dicke
stand vor mir, als ich das gerade auf den Schreibtisch niedergesetzt Hatte Tablett und mich
umwandte, um zu noch etwas in der Küche holen. Es war Ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren,
das einen altmodischen Lodenmantel und schwarze, gestrickte Gamaschen anhatte an einem und
Riemen Ein paar Schlittschuhe trug, und kam es mir bekannt, aber doch nicht richtig bekannt vor,
Weil und es war so Leidse hereingekommen, Hatte es mich erschreckt .
Kenne ich dich? fragte ich überrascht.
Das Dicke Kind sagte nichts. Es stand da und nur über seinem runden legte Bauch Die Hände
und sah mich zusammen mit Augen an Seinen wasserhellen.
Möchtest du Ein Buch? fragte ich.
Das Dicke Kind gab wieder keine Antwort. Aber ich mich nicht allzusehr darüber wunderte. Ich war
es gewohnt, daß Die Kinder schüchtern waren, und daß man Ihnen Helfen mußte. Also Zog ich Ein
paar Bücher heraus und sie vor das Fremde Mädchen legte Hin. Dann machte ich mich daran , Eine
der Karten auszufüllen, Die entliehenen Bücher auf welchen aufgezeichnet wurden.
Wie heißt du denn? fragte ich.
Sie mich nennen Die Dicke, sagte das Kind.
Soll ich dich Auch so nennen? fragte ich.
Es ist mir egal, sagte das Kind . Es erwiderte mein Lächeln nicht, und ich mich jetzt zu glaube
erinnern, daß sein Gesicht sich in diesem Augenblick schmerzlich verzog.
Aber ich nicht darauf achtete.
Wann geboren bist du? fragte ich weiter.
Im Wassermann, sagte das Kind ruhig.
Diese Antwort belustigte mich und ich sie auf der Karte Ein trug, spaßeshalber gewissermaßen, und
ich mich wieder Dann wandte Büchern zu den.
Möchtest du etwas Bestimmtes? fragte ich.
Aber ich sah Dann, daß Kind gar nicht das Fremde Die Bücher ins Auge faßte, Sondern seine Blicke
auf dem Tablett ruhen ließ, Tee und auf dem mein meine belegten Brote Standen,
Vielleicht möchtest du etwas essen, sagte ich Schnell.
Das Kind nickte, und etwas lag in seiner Zustimmung Wie Ein gekränktes Erstaunen darüber, daß
Marie Luise Kaschnitz "Das Dicke Kind "2
ich jetzt auf Diesen ERST Gedanken kam. Es machte sich daran, Die Brote zu eins nach dem andern
verzehren, und es auf das Eine besondere tat Weise, über Die ich mir ERST später Rechenschaft gab.
Dann Saß und es wieder da ließ seine trägen Kalten Blicke im Zimmer herumwandern, und es lag
etwas in seinem Wesen, und das mich mit Ärger Abneigung erfüllte, Ja gewiß, Habe ich dieses Kind
von Anfang an gehaßt. Alles an ihm Hat mich abgestoßen, seine trägen Glieder, sein hübsches , Fettes
Gesicht, seine Sprechen zu Art, Die zugleich schläfrig und anmaßend war. Und ich mich obwohl
entschlossen Hatte, ihm zuliebe meinen Spaziergang aufzugeben, behandelte ich es doch keineswegs
freundlich, Sondern grausam und Kalt.
Oder soll es etwa freundlich nennen man, daß ich mich nun setzte an den Schreibtisch und meine
Arbeit und über meine Schulter vornahm Weg sagte, Lies jetzt, obwohl ich doch Ganz Genau wußte,
daß das Fremde Kind gar nicht lesen wollte? Und Dann Saß und ich da brachte wollte schreiben und
nichts zustande, Weil ich der Peinigung Hatte Ein sonderbares Gefühl, so, Wie Wenn man etwas
erraten errät und soll es nicht, und EHE man es nicht erraten Hat, Kann nichts werden Mehr so, Wie es
vorher war. Und ich das Eine Weile lang hielt AUS, aber nicht sehr Lange, und ich mich Dann wandte
begann Eine Unterhaltung und um, und es mir nur fielen Die Fragen Ein törichsten.
Hast du noch Geschwister? fragte ich.
Ja, das Kind sagte.
Gehst du gern in Die Schule? fragte ich.
ja, das Kind sagte.
Was machst du denn am liebsten?
Wie bitte? fragte das Kind.
Welches Fach? fragte verzweifelt ich.
Ich Weiß nicht, sagte das Kind.
Vielleicht Deutsch? fragte ich.
Ich Weiß nicht, sagte das Kind.
Ich drehte meinen Bleistift zwischen den Fingern, und etwas in wuchs es mir auf, Ein Grauen, das
mit der Erscheinung des Kindes in gar keinem Verhältnis stand.
Hast du Freundinnen? fragte ich zitternd.
O ja, das Mädchen sagte.
Eine hast du sicher doch am liebsten? fragte ich.
Ich Weiß nicht, sagte das Kind, und Wie es dasaß in seinem haarigen Lodenmantel, glich es einer
fetten Raupe, und Wie Eine Raupe Hatte es Auch gegessen, und Wie Eine Raupe witterte es jetzt
wieder herum. Jetzt bekommst du nichts Mehr, dachte ich, von einer sonderbaren Rachsucht erfüllt.
Aber ich doch hinaus Dann ging Holte Brot und Wurst und, und das Kind starrte darauf mit seinem
dumpfen Gesicht, fing es an Dann und zu essen, Wie Eine Raupe frißt, Langsam und stetig, Wie AUS
einem inneren Zwang heraus, und ich und betrachtete es feindlich Stumm.
Denn es nun schon soweit war, daß alles an diesem Kind und mich aufzuregen ärgern begann. Was
für Ein albernes, Weißes Kleid, was für Ein lächerlicher Stehkragen, dachte ich, als das Kind nach
dem Essen Seinen Mantel aufknöpfte. Ich meine Arbeit an setzte mich wieder, aber Dann hörte ich
mir das Kind Hinter schmatzen, dieses Geräusch glich und dem eines trägen Schmatzen Schwarzen
Reihers irgendwo im Walde, brachte es mir alles wässerig Dumpfe , alles und und Trübe Schwere
der Menschennatur und zum Bewußtsein verstimmte mich sehr. Was Willst du von mir, dachte ich,
geh fort, geh fort. Und ich Hatte Lust, das Kind mit dem Zimmer zu meinen Händen AUS stoßen, Wie
Marie Luise Kaschnitz "Das Dicke Kind" 3
Tier vertreibt man Ein lästiges. Aber ich es nicht Dann stieß AUS dem Zimmer, Sondern sprach nur
wieder mit ihm, und wieder auf dieselbe grausame Art.
Gehst du jetzt aufs Eis, fragte ich.
Ja, das Dicke sagte Kind.
Kannst du gut Schlittschuhlaufen? fragte ich auf und deutete Schlittschuhe Die, Die das Kind noch
immer am Arm hängen Hatte.
Meine Schwester Kann gut, sagte das Kind, und wieder auf seinem erschien Gesicht in Ausdruck
von Schmerz und Trauer und ich wieder beachtete ihn nicht.
Wie sieht Deine Schwester AUS? fragte ich. Gleicht sie dir?
Ach nein, sagte das Kind Dicke. Meine Schwester und ist Ganz dünn Hat Schwarzes, lockiges Haar.
Im Sommer, Wenn wir auf dem Land Sind, steht auf sie nachts , Wenn Ein Gewitter kommt, und sitzt
oben auf der Galerie auf dem Geländer obersten und singt.
Und du? fragte ich.
Ich bleibe im Bett, sagte das Kind. Ich Habe Angst.
Deine Schwester Hat keine Angst, nicht wahr? sagte ich.
nein, sagte das Kind. Sie Hat niemals Angst. Sie springt Auch vom obersten Sprungbrett. Sie macht
einen Kopfsprung, und sie WEIT hinaus Dann schwimmt...
Was singt Deine Schwester denn? fragte ich neugierig.
Sie singt, was sie Will, sagte Dicke das Kind traurig. Sie macht Gedichte.
Und du? fragte ich.
Ich tue nichts, sagte das Kind. Und es auf und sagte Dann stand, ich jetzt muß gehen. streckte Ich
meine Hand AUS, und es legte seine dicken Finger hinein, Weiß nicht Genau und ich, was ich Dabei
empfand, Wie Eine etwas Aufforderung, ihm zu folgen, einen unhörbaren dringlichen Ruf. Komm
Einmal wieder, sagte ich, aber es war mir nicht Ernst Damit, und das Kind sagte nichts und sah mich
mit Seinen Augen an kühlen. Und Dann war es fort, und ich Hatte eigentlich Erleichterung spüren
müssen. Aber kaum, daß ich ins Die Wohnungstür Schloß fallen hörte, Lief Auch ich schon auf den
Korridor hinaus Mantel und meinen an Zog. Ich Ganz Schnell rannte Die Treppe hinunter und
erreichte Die Straße in dem Augenblick, in dem das Kind um Die nächste Ecke verschwand.
Ich muß doch sehen, Wie diese Raupe Schlittschuh läuft, dachte ich. Ich muß doch sehen, Wie sich
auf dem EISE bewegt Dieser Fettkloß. Und ich beschleunigte meine Schritte, um das Kind AUS nicht
den Augen zu verlieren.
Es war am frühen Nachmittag gewesen, als das Kind Dicke trat zu mir ins Zimmer, und jetzt Brach
Die Dämmerung HEREIN. Obwohl ich in Dieser einige Jahre Stadt meiner Kindheit verbracht Hatte,
kannte ich mich doch nicht gut AUS Mehr, und während ich mich bemühte, dem Kind zu folgen,
wußte ich nicht Mehr Bald, welchen Weg wir Gingen, Straßen und Plätze und Die, Die vor mir
auftauchten, waren mir völlig fremd. Ich Auch plötzlich bemerkte Eine Veränderung in der Luft. Es
war sehr Kalt gewesen, aber nun war Ohne Zweifel Tauwetter eingetreten Gewalt und mit Großer so,
daß der Schnee und schon von den Dächern tropfte am Himmel Große Föhnwolken ihres Weges
zogen. Wir kamen vor Die Stadt hinaus, dorthin , WO Die Häuser von Großen Gärten umgeben Sind,
gar keine Häuser und Mehr Dann waren da, und das Kind und Dann verschwand plötzlich tauchte
Eine Böschung hinab. Und Wenn ich erwartet Hatte, nun einen Eislaufplatz vor mir zu sehen, helle
Buden und und Bogenlampen Eine glitzernde Fläche Voll Geschrei und Musik, so BOT sich mir jetzt
Ein Ganz Anderer Anblick Denn lag Dort Unter der See, von dem ich geglaubt Hatte, daß seine Ufer.
Marie Luise Kaschnitz "Das Dicke Kind" 4
mittlerweile alle bebaut Worden wären: er Ganz einsam da lag, von Schwarzen Wäldern umgeben
Genau und sah Wie in meiner Kindheit AUS.
dieses Bild erregte unerwartete so mich sehr, daß ich das Fremde Kind beinahe AUS den Augen
verlor. Aber ich sah es wieder Dann, es
переводится, пожалуйста, подождите..
