Marie Luise Kaschnitz

Marie Luise Kaschnitz "Das dicke Ki

Marie Luise Kaschnitz "Das dicke Kind" 1
Es war Ende Januar, bald nach den Weihnachtsferien, als das dicke Kind zu mir kam. Ich hatte in
diesem Winter angefangen, die Kinder aus der Nachbarschaft Bücher auszuleihen, die sie an einem
bestimmten Wochentag holen und zurückbringen sollten. Natürlich kannte ich die meisten dieser
Kinder, aber es kamen auch manchmal Fremde, die nicht in unserer Straße wohnten. Und wenn
auch die Mehrzahl von ihnen gerade nur so lange Zeit blieb, wie der Umtausch in Anspruch nahm,
so gab es doch einige, die sich hinsetzten und gleich auf der Stelle zu lesen begannen. Dann saß ich
an meinem Schreibtisch und arbeitete, und die Kinder saßen an dem kleinen Tisch bei der
Bücherwand, und ihre Gegenwart war mir angenehm und störte mich nicht.
Das dicke Kind kam an einem Freitag oder Samstag, jedenfalls nicht an dem zum Ausleihen
bestimmten Tag. Ich hatte vor, auszugehen, und war im Begriff, einen kleinen Imbiß, den ich mir
gerichtet hatte, ins Zimmer zu tragen. Kurz vorher hatte ich einen Besuch gehabt und dieser mußte
wohl vergessen haben, die Eingangstür zu schließen. So kam es, daß das dicke Kind ganz plötzlich
vor mir stand, gerade als ich das Tablett auf den Schreibtisch niedergesetzt hatte und mich
umwandte, um noch etwas in der Küche zu holen. Es war ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren,
das einen altmodischen Lodenmantel und schwarze, gestrickte Gamaschen anhatte und an einem
Riemen ein paar Schlittschuhe trug, und es kam mir bekannt, aber doch nicht richtig bekannt vor,
und weil es so leise hereingekommen war, hatte es mich erschreckt.
Kenne ich dich? fragte ich überrascht.
Das dicke Kind sagte nichts. Es stand nur da und legte die Hände über seinem runden Bauch
zusammen und sah mich mit seinen wasserhellen Augen an.
Möchtest du ein Buch? fragte ich.
Das dicke Kind gab wieder keine Antwort. Aber darüber wunderte ich mich nicht allzusehr. Ich war
es gewohnt, daß die Kinder schüchtern waren, und daß man ihnen helfen mußte. Also zog ich ein
paar Bücher heraus und legte sie vor das fremde Mädchen hin. Dann machte ich mich daran, eine
der Karten auszufüllen, auf welchen die entliehenen Bücher aufgezeichnet wurden.
Wie heißt du denn? fragte ich.
Sie nennen mich die Dicke, sagte das Kind.
Soll ich dich auch so nennen? fragte ich.
Es ist mir egal, sagte das Kind. Es erwiderte mein Lächeln nicht, und ich glaube mich jetzt zu
erinnern, daß sein Gesicht sich in diesem Augenblick schmerzlich verzog.
Aber ich achtete darauf nicht.
Wann bist du geboren? fragte ich weiter.
Im Wassermann, sagte das Kind ruhig.
Diese Antwort belustigte mich und ich trug sie auf der Karte ein, spaßeshalber gewissermaßen, und
dann wandte ich mich wieder den Büchern zu.
Möchtest du etwas Bestimmtes? fragte ich.
Aber dann sah ich, daß das fremde Kind gar nicht die Bücher ins Auge faßte, sondern seine Blicke
auf dem Tablett ruhen ließ, auf dem mein Tee und meine belegten Brote standen,
Vielleicht möchtest du etwas essen, sagte ich schnell.
Das Kind nickte, und in seiner Zustimmung lag etwas wie ein gekränktes Erstaunen darüber, daß
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ich erst jetzt auf diesen Gedanken kam. Es machte sich daran, die Brote eins nach dem andern zu
verzehren, und es tat das auf eine besondere Weise, über die ich mir erst später Rechenschaft gab.
Dann saß es wieder da und ließ seine trägen kalten Blicke im Zimmer herumwandern, und es lag
etwas in seinem Wesen, das mich mit Ärger und Abneigung erfüllte, Ja gewiß, ich habe dieses Kind
von Anfang an gehaßt. Alles an ihm hat mich abgestoßen, seine trägen Glieder, sein hübsches, fettes
Gesicht, seine Art zu sprechen, die zugleich schläfrig und anmaßend war. Und obwohl ich mich
entschlossen hatte, ihm zuliebe meinen Spaziergang aufzugeben, behandelte ich es doch keineswegs
freundlich, sondern grausam und kalt.
Oder soll man es etwa freundlich nennen, daß ich mich nun an den Schreibtisch setzte und meine
Arbeit vornahm und über meine Schulter weg sagte, lies jetzt, obwohl ich doch ganz genau wußte,
daß das fremde Kind gar nicht lesen wollte? Und dann saß ich da und wollte schreiben und brachte
nichts zustande, weil ich ein sonderbares Gefühl der Peinigung hatte, so, wie wenn man etwas
erraten soll und errät es nicht, und ehe man es nicht erraten hat, kann nichts mehr so werden, wie es
vorher war. Und eine Weile lang hielt ich das aus, aber nicht sehr lange, und dann wandte ich mich
um und begann eine Unterhaltung, und es fielen mir nur die törichsten Fragen ein.
Hast du noch Geschwister? fragte ich.
Ja, sagte das Kind.
Gehst du gern in die Schule? fragte ich.
Ja, sagte das Kind.
Was machst du denn am liebsten?
Wie bitte? fragte das Kind.
Welches Fach? fragte ich verzweifelt.
Ich weiß nicht, sagte das Kind.
Vielleicht Deutsch? fragte ich.
Ich weiß nicht, sagte das Kind.
Ich drehte meinen Bleistift zwischen den Fingern, und es wuchs etwas in mir auf, ein Grauen, das
mit der Erscheinung des Kindes in gar keinem Verhältnis stand.
Hast du Freundinnen? fragte ich zitternd.
O ja, sagte das Mädchen.
Eine hast du doch sicher am liebsten? fragte ich.
Ich weiß nicht, sagte das Kind, und wie es dasaß in seinem haarigen Lodenmantel, glich es einer
fetten Raupe, und wie eine Raupe hatte es auch gegessen, und wie eine Raupe witterte es jetzt
wieder herum. Jetzt bekommst du nichts mehr, dachte ich, von einer sonderbaren Rachsucht erfüllt.
Aber dann ging ich doch hinaus und holte Brot und Wurst, und das Kind starrte darauf mit seinem
dumpfen Gesicht, und dann fing es an zu essen, wie eine Raupe frißt, langsam und stetig, wie aus
einem inneren Zwang heraus, und ich betrachtete es feindlich und stumm.
Denn nun war es schon soweit, daß alles an diesem Kind mich aufzuregen und ärgern begann. Was
für ein albernes, weißes Kleid, was für ein lächerlicher Stehkragen, dachte ich, als das Kind nach
dem Essen seinen Mantel aufknöpfte. Ich setzte mich wieder an meine Arbeit, aber dann hörte ich
das Kind hinter mir schmatzen, und dieses Geräusch glich dem trägen Schmatzen eines schwarzen
Reihers irgendwo im Walde, es brachte mir alles wässerig Dumpfe, alles Schwere und und Trübe
der Menschennatur zum Bewußtsein und verstimmte mich sehr. Was willst du von mir, dachte ich,
geh fort, geh fort. Und ich hatte Lust, das Kind mit meinen Händen aus dem Zimmer zu stoßen, wie
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man ein lästiges Tier vertreibt. Aber dann stieß ich es nicht aus dem Zimmer, sondern sprach nur
wieder mit ihm, und wieder auf dieselbe grausame Art.
Gehst du jetzt aufs Eis, fragte ich.
Ja, sagte das dicke Kind.
Kannst du gut Schlittschuhlaufen? fragte ich und deutete auf die Schlittschuhe, die das Kind noch
immer am Arm hängen hatte.
Meine Schwester kann gut, sagte das Kind, und wieder erschien auf seinem Gesicht in Ausdruck
von Schmerz und Trauer und wieder beachtete ich ihn nicht.
Wie sieht deine Schwester aus? fragte ich. Gleicht sie dir?
Ach nein, sagte das dicke Kind. Meine Schwester ist ganz dünn und hat schwarzes, lockiges Haar.
Im Sommer, wenn wir auf dem Land sind, steht sie nachts auf, wenn ein Gewitter kommt, und sitzt
oben auf der obersten Galerie auf dem Geländer und singt.
Und du? fragte ich.
Ich bleibe im Bett, sagte das Kind. Ich habe Angst.
Deine Schwester hat keine Angst, nicht wahr? sagte ich.
Nein, sagte das Kind. Sie hat niemals Angst. Sie springt auch vom obersten Sprungbrett. Sie macht
einen Kopfsprung, und dann schwimmt sie weit hinaus . . .
Was singt deine Schwester denn? fragte ich neugierig.
Sie singt, was sie will, sagte das dicke Kind traurig. Sie macht Gedichte.
Und du? fragte ich.
Ich tue nichts, sagte das Kind. Und dann stand es auf und sagte, ich muß jetzt gehen. Ich streckte
meine Hand aus, und es legte seine dicken Finger hinein, und ich weiß nicht genau, was ich dabei
empfand, etwas wie eine Aufforderung, ihm zu folgen, einen unhörbaren dringlichen Ruf. Komm
einmal wieder, sagte ich, aber es war mir nicht ernst damit, und das Kind sagte nichts und sah mich
mit seinen kühlen Augen an. Und dann war es fort, und ich hatte eigentlich Erleichterung spüren
müssen. Aber kaum, daß ich die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte, lief ich auch schon auf den
Korridor hinaus und zog meinen Mantel an. Ich rannte ganz schnell die Treppe hinunter und
erreichte die Straße in dem Augenblick, in dem das Kind um die nächste Ecke verschwand.
Ich muß doch sehen, wie diese Raupe Schlittschuh läuft, dachte ich. Ich muß doch sehen, wie sich
dieser Fettkloß auf dem Eise bewegt. Und ich beschleunigte meine Schritte, um das Kind nicht aus
den Augen zu verlieren.
Es war am frühen Nachmittag gewesen, als das dicke Kind zu mir ins Zimmer trat, und jetzt brach
die Dämmerung herein. Obwohl ich in dieser Stadt einige Jahre meiner Kindheit verbracht hatte,
kannte ich mich doch nicht mehr gut aus, und während ich mich bemühte, dem Kind zu folgen,
wußte ich bald nicht mehr, welchen Weg wir gingen, und die Straßen und Plätze, die vor mir
auftauchten, waren mir völlig fremd. Ich bemerkte auch plötzlich eine Veränderung in der Luft. Es
war sehr kalt gewesen, aber nun war ohne Zweifel Tauwetter eingetreten und mit so großer Gewalt,
daß der Schnee schon von den Dächern tropfte und am Himmel große Föhnwolken ihres Weges
zogen. Wir kamen vor die Stadt hinaus, dorthin, wo die Häuser von großen Gärten umgeben sind,
und dann waren gar keine Häuser mehr da, und dann verschwand plötzlich das Kind und tauchte
eine Böschung hinab. Und wenn ich erwartet hatte, nun einen Eislaufplatz vor mir zu sehen, helle
Buden und Bogenlampen und eine glitzernde Fläche voll Geschrei und Musik, so bot sich mir jetzt
ein ganz anderer Anblick. Denn dort unten lag der See, von dem ich geglaubt hatte, daß seine Ufer
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mittlerweile alle bebaut worden wären: er lag ganz einsam da, von schwarzen Wäldern umgeben
und sah genau wie in meiner Kindheit aus.
Dieses unerwartete Bild erregte mich so sehr, daß ich das fremde Kind beinahe aus den Augen
verlor. Aber dann sah ich es wieder, es
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Marie Luise Kaschnitz "Das dicke Kind" 1Es war Ende Januar, bald nach den Weihnachtsferien, als das dicke Kind zu mir kam. Ich hatte indiesem Winter angefangen, die Kinder aus der Nachbarschaft Bücher auszuleihen, die sie an einembestimmten Wochentag holen und zurückbringen sollten. Natürlich kannte ich die meisten dieserKinder, aber es kamen auch manchmal Fremde, die nicht in unserer Straße wohnten. Und wennauch die Mehrzahl von ihnen gerade nur so lange Zeit blieb, wie der Umtausch in Anspruch nahm,so gab es doch einige, die sich hinsetzten und gleich auf der Stelle zu lesen begannen. Dann saß ichan meinem Schreibtisch und arbeitete, und die Kinder saßen an dem kleinen Tisch bei derBücherwand, und ihre Gegenwart war mir angenehm und störte mich nicht.Das dicke Kind kam an einem Freitag oder Samstag, jedenfalls nicht an dem zum Ausleihenbestimmten Tag. Ich hatte vor, auszugehen, und war im Begriff, einen kleinen Imbiß, den ich mirgerichtet hatte, ins Zimmer zu tragen. Kurz vorher hatte ich einen Besuch gehabt und dieser mußtewohl vergessen haben, die Eingangstür zu schließen. So kam es, daß das dicke Kind ganz plötzlichvor mir stand, gerade als ich das Tablett auf den Schreibtisch niedergesetzt hatte und michumwandte, um noch etwas in der Küche zu holen. Es war ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren,das einen altmodischen Lodenmantel und schwarze, gestrickte Gamaschen anhatte und an einemRiemen ein paar Schlittschuhe trug, und es kam mir bekannt, aber doch nicht richtig bekannt vor,und weil es so leise hereingekommen war, hatte es mich erschreckt.Kenne ich dich? fragte ich überrascht.Das dicke Kind sagte nichts. Es stand nur da und legte die Hände über seinem runden Bauchzusammen und sah mich mit seinen wasserhellen Augen an.Möchtest du ein Buch? fragte ich.Das dicke Kind gab wieder keine Antwort. Aber darüber wunderte ich mich nicht allzusehr. Ich wares gewohnt, daß die Kinder schüchtern waren, und daß man ihnen helfen mußte. Also zog ich einpaar Bücher heraus und legte sie vor das fremde Mädchen hin. Dann machte ich mich daran, eineder Karten auszufüllen, auf welchen die entliehenen Bücher aufgezeichnet wurden.Wie heißt du denn? fragte ich.Sie nennen mich die Dicke, sagte das Kind.Soll ich dich auch so nennen? fragte ich.Es ist mir egal, sagte das Kind. Es erwiderte mein Lächeln nicht, und ich glaube mich jetzt zuerinnern, daß sein Gesicht sich in diesem Augenblick schmerzlich verzog.Aber ich achtete darauf nicht.Wann bist du geboren? fragte ich weiter.Im Wassermann, sagte das Kind ruhig.Diese Antwort belustigte mich und ich trug sie auf der Karte ein, spaßeshalber gewissermaßen, unddann wandte ich mich wieder den Büchern zu.Möchtest du etwas Bestimmtes? fragte ich.Aber dann sah ich, daß das fremde Kind gar nicht die Bücher ins Auge faßte, sondern seine Blickeauf dem Tablett ruhen ließ, auf dem mein Tee und meine belegten Brote standen,Vielleicht möchtest du etwas essen, sagte ich schnell.Das Kind nickte, und in seiner Zustimmung lag etwas wie ein gekränktes Erstaunen darüber, daßMarie Luise Kaschnitz "Das dicke Kind" 2ich erst jetzt auf diesen Gedanken kam. Es machte sich daran, die Brote eins nach dem andern zuverzehren, und es tat das auf eine besondere Weise, über die ich mir erst später Rechenschaft gab.Dann saß es wieder da und ließ seine trägen kalten Blicke im Zimmer herumwandern, und es lagetwas in seinem Wesen, das mich mit Ärger und Abneigung erfüllte, Ja gewiß, ich habe dieses Kindvon Anfang an gehaßt. Alles an ihm hat mich abgestoßen, seine trägen Glieder, sein hübsches, fettesGesicht, seine Art zu sprechen, die zugleich schläfrig und anmaßend war. Und obwohl ich michentschlossen hatte, ihm zuliebe meinen Spaziergang aufzugeben, behandelte ich es doch keineswegsfreundlich, sondern grausam und kalt.Oder soll man es etwa freundlich nennen, daß ich mich nun an den Schreibtisch setzte und meineArbeit vornahm und über meine Schulter weg sagte, lies jetzt, obwohl ich doch ganz genau wußte,daß das fremde Kind gar nicht lesen wollte? Und dann saß ich da und wollte schreiben und brachtenichts zustande, weil ich ein sonderbares Gefühl der Peinigung hatte, so, wie wenn man etwaserraten soll und errät es nicht, und ehe man es nicht erraten hat, kann nichts mehr so werden, wie esvorher war. Und eine Weile lang hielt ich das aus, aber nicht sehr lange, und dann wandte ich michum und begann eine Unterhaltung, und es fielen mir nur die törichsten Fragen ein.Hast du noch Geschwister? fragte ich.Ja, sagte das Kind.Gehst du gern in die Schule? fragte ich.Ja, sagte das Kind.Was machst du denn am liebsten?Wie bitte? fragte das Kind.Welches Fach? fragte ich verzweifelt.Ich weiß nicht, sagte das Kind.Vielleicht Deutsch? fragte ich.Ich weiß nicht, sagte das Kind.Ich drehte meinen Bleistift zwischen den Fingern, und es wuchs etwas in mir auf, ein Grauen, dasmit der Erscheinung des Kindes in gar keinem Verhältnis stand.Hast du Freundinnen? fragte ich zitternd.O ja, sagte das Mädchen.Eine hast du doch sicher am liebsten? fragte ich.Ich weiß nicht, sagte das Kind, und wie es dasaß in seinem haarigen Lodenmantel, glich es einerfetten Raupe, und wie eine Raupe hatte es auch gegessen, und wie eine Raupe witterte es jetztwieder herum. Jetzt bekommst du nichts mehr, dachte ich, von einer sonderbaren Rachsucht erfüllt.Aber dann ging ich doch hinaus und holte Brot und Wurst, und das Kind starrte darauf mit seinemdumpfen Gesicht, und dann fing es an zu essen, wie eine Raupe frißt, langsam und stetig, wie auseinem inneren Zwang heraus, und ich betrachtete es feindlich und stumm.Denn nun war es schon soweit, daß alles an diesem Kind mich aufzuregen und ärgern begann. Wasfür ein albernes, weißes Kleid, was für ein lächerlicher Stehkragen, dachte ich, als das Kind nachdem Essen seinen Mantel aufknöpfte. Ich setzte mich wieder an meine Arbeit, aber dann hörte ichdas Kind hinter mir schmatzen, und dieses Geräusch glich dem trägen Schmatzen eines schwarzenReihers irgendwo im Walde, es brachte mir alles wässerig Dumpfe, alles Schwere und und Trübeder Menschennatur zum Bewußtsein und verstimmte mich sehr. Was willst du von mir, dachte ich,geh fort, geh fort. Und ich hatte Lust, das Kind mit meinen Händen aus dem Zimmer zu stoßen, wieMarie Luise Kaschnitz "Das dicke Kind" 3man ein lästiges Tier vertreibt. Aber dann stieß ich es nicht aus dem Zimmer, sondern sprach nurwieder mit ihm, und wieder auf dieselbe grausame Art.Gehst du jetzt aufs Eis, fragte ich.Ja, sagte das dicke Kind.Kannst du gut Schlittschuhlaufen? fragte ich und deutete auf die Schlittschuhe, die das Kind nochimmer am Arm hängen hatte.Meine Schwester kann gut, sagte das Kind, und wieder erschien auf seinem Gesicht in Ausdruckvon Schmerz und Trauer und wieder beachtete ich ihn nicht.Wie sieht deine Schwester aus? fragte ich. Gleicht sie dir?Ach nein, sagte das dicke Kind. Meine Schwester ist ganz dünn und hat schwarzes, lockiges Haar.Im Sommer, wenn wir auf dem Land sind, steht sie nachts auf, wenn ein Gewitter kommt, und sitztoben auf der obersten Galerie auf dem Geländer und singt.Und du? fragte ich.Ich bleibe im Bett, sagte das Kind. Ich habe Angst.Deine Schwester hat keine Angst, nicht wahr? sagte ich.Nein, sagte das Kind. Sie hat niemals Angst. Sie springt auch vom obersten Sprungbrett. Sie machteinen Kopfsprung, und dann schwimmt sie weit hinaus . . .Was singt deine Schwester denn? fragte ich neugierig.Sie singt, was sie will, sagte das dicke Kind traurig. Sie macht Gedichte.Und du? fragte ich.Ich tue nichts, sagte das Kind. Und dann stand es auf und sagte, ich muß jetzt gehen. Ich strecktemeine Hand aus, und es legte seine dicken Finger hinein, und ich weiß nicht genau, was ich dabeiempfand, etwas wie eine Aufforderung, ihm zu folgen, einen unhörbaren dringlichen Ruf. Kommeinmal wieder, sagte ich, aber es war mir nicht ernst damit, und das Kind sagte nichts und sah michmit seinen kühlen Augen an. Und dann war es fort, und ich hatte eigentlich Erleichterung spürenmüssen. Aber kaum, daß ich die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte, lief ich auch schon auf denKorridor hinaus und zog meinen Mantel an. Ich rannte ganz schnell die Treppe hinunter underreichte die Straße in dem Augenblick, in dem das Kind um die nächste Ecke verschwand.Ich muß doch sehen, wie diese Raupe Schlittschuh läuft, dachte ich. Ich muß doch sehen, wie sichdieser Fettkloß auf dem Eise bewegt. Und ich beschleunigte meine Schritte, um das Kind nicht ausden Augen zu verlieren.Es war am frühen Nachmittag gewesen, als das dicke Kind zu mir ins Zimmer trat, und jetzt brachdie Dämmerung herein. Obwohl ich in dieser Stadt einige Jahre meiner Kindheit verbracht hatte,kannte ich mich doch nicht mehr gut aus, und während ich mich bemühte, dem Kind zu folgen,wußte ich bald nicht mehr, welchen Weg wir gingen, und die Straßen und Plätze, die vor mirauftauchten, waren mir völlig fremd. Ich bemerkte auch plötzlich eine Veränderung in der Luft. Eswar sehr kalt gewesen, aber nun war ohne Zweifel Tauwetter eingetreten und mit so großer Gewalt,daß der Schnee schon von den Dächern tropfte und am Himmel große Föhnwolken ihres Wegeszogen. Wir kamen vor die Stadt hinaus, dorthin, wo die Häuser von großen Gärten umgeben sind,und dann waren gar keine Häuser mehr da, und dann verschwand plötzlich das Kind und tauchteeine Böschung hinab. Und wenn ich erwartet hatte, nun einen Eislaufplatz vor mir zu sehen, helleBuden und Bogenlampen und eine glitzernde Fläche voll Geschrei und Musik, so bot sich mir jetztein ganz anderer Anblick. Denn dort unten lag der See, von dem ich geglaubt hatte, daß seine UferMarie Luise Kaschnitz "Das dicke Kind" 4mittlerweile alle bebaut worden wären: er lag ganz einsam da, von schwarzen Wäldern umgebenund sah genau wie in meiner Kindheit aus.Dieses unerwartete Bild erregte mich so sehr, daß ich das fremde Kind beinahe aus den Augenverlor. Aber dann sah ich es wieder, es
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Marie Luise Kaschnitz "Das dicke Kind "1 the war Es Ende Januar, bald nach Weihnachtsferien den, als das dicke Kind zu mir kam. Ich hatte in the Winter diesem angefangen, die Kinder aus der Nachbarschaft Bu auszuleihen cher, die sie an einem bestimmten the Wochentag holen und zuru ckbringen sollten. Natu rlich kannte ich die meisten dieser) Kinder, aber es kamen auch manchmal Fremde,die in nicht unserer Stra clean e wohnten. Und wenn auch to die Mehrzahl von ihnen gerade nur so Zeit blieb lange, wie der Umtausch in Anspruch nahm, so the gab es doch einige, die sich hinsetzten und zu gleich auf der Stelle lesen begannen. Dann sa clean the ich an meinem Schreibtisch und arbeitete, und die Kinder sa clean en an dem kleinen Tisch Bei the der Bu cherwand,und ihre Gegenwart war mir angenehm und sto rte mich nicht. The dicke Das Kind kam an einem Freitag oder Samstag, jedenfalls nicht an dem zum Ausleihen bestimmten the Tag. Ich hatte vor, auszugehen, und war im Begriff, einen kleinen Imbi clean, den ich hatte gerichtet the mir, ins Zimmer zu tragen. Kurz vorher ich hatte einen Besuch gehabt und dieser mu clean te
wohl vergessen haben, die Eingangstu r zu schlie clean en.So kam es, da clean das dicke Kind ganz the plo tzlich vor mir stand, gerade als ich das Tablett auf den Schreibtisch niedergesetzt hatte und mich) umwandte, um noch etwas in der Ku che zu holen. Es war ein Ma dchen von vielleicht zwo LF Jahren, das einen altmodischen Lodenmantel und schwarze, gestrickte Gamaschen anhatte und an einem Riemen the ein paar Schlittschuhe trug, und es kam mir bekannt,
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